Der naturwissenschaftliche Lehrkanon ist das Ergebnis eines Evolutionsprozesses. Er spiegelt den Verlauf der Entwicklung der Naturwissenschaft bis in viele Einzelheiten wider. Wer die Wissenschaft lernt, geht daher einen Weg, der dem historischen Weg sehr ähnlich ist. Er geht Umwege, überwindet überflüssige Hindernisse und wiederholt Fehler. Er lernt unpassende Konzepte und benutzt veraltete Methoden. Mit der Entwicklung des Karlsruher Physikkurses haben wir uns bemüht, solche „Altlasten“ zu entsorgen.
F. Herrmann und G. Job: Altlasten der Physik , AULIS Verlag Deubner, Köln 2000, auch im Internet
F. Herrmann und G. Job: The historical burden on scientific knowledge , Eur. J. Phys. 17 (1996), S. 159
Es passierte immer wieder, dass wichtige Arbeiten und Erkenntnisse von der wissenschaftlichen Community nicht angenommen wurden: Sie waren zu spät gekommen. Ein Wechsel – obwohl er von großem Nutzen gewesen wäre – war zu mühsam. Hierzu drei Beispiele:
1. Die Entropie hatte drei Chancen, sich als eine sehr einfache, auch jedem Anfänger verständliche Größe zu etablieren. Die erste nach den Arbeiten von Joseph Black und Sadi Carnot, die zweite durch W. Ostwald und H. L. Callendar (siehe auch M. Hirshfeld) und die dritte durch das Buch Neudarstellung der Wärmelehre von Georg Job. Keine der drei Chancen wurde genutzt. Die entsprechenden Arbeiten wurden falsch interpretiert oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen.
2. Die physikalische Größe Kraft mit der zugehörigen Sprache – eine raffinierte Konstruktion Newtons – entpuppte sich als Impulsstromstärke. Die entsprechende Arbeit aus dem Jahr 1908 von Max Planck, ist weitgehend unbeachtet geblieben.
3. Dass die Energie einem lokalen Erhaltungssatz genügt, war in den ersten 50 Jahren nach ihrer Einführung in die Physik nicht klar. Es war erwartet worden, konnte aber zunächst nicht bewiesen werden. Es hat sich daher eine Sprache herausgebildet, die diesen Zweifeln Rechnung trägt. Die Arbeit von Gustav Mie aus dem Jahr 1898, in der gezeigt wird, dass die Energie eine lokale Kontinuitätsgleichung befolgt, konnte daran nichts mehr ändern. Wir sprechen noch heute so über die Energie, als ob man mit Fernwirkungen rechnen müsste.
Im Karlsruher Physikkurs haben wir diese zugeschütteten Erkenntnisse berücksichtigt. Da entsprechende Originalliteratur nicht leicht zugänglich ist, hier einige Links:
J. Black: Lectures on the elements of chemistry , Mundell and Son, Edinburgh (1803)
S. Carnot: Réflexions sur la puissance motrice du feu , Librairie scientifique et technique, A. Blanchard, Paris (1953)
W. Ostwald: Die Energie,Verlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig, S. 77 (1908)
H.L. Callendar: The caloric theory of heat and Carnot’s principle, Proc. Phys. Soc. London 23 (1911), S. 153
H.L. Callendar: Properties of Steam and Thermodynamik Theory of Turbines, Edward Arnold, London(1920), S. 131-132.
M. A. Hirshfeld: On Some Current Misinterpretations of Carnot’s Memoir , Am. J. Phys. 23 (1955)S. 103-105,
G. Jaumann: Geschlossenes System physikalischer und chemischer Differentialgesetze , Wiener Berichte CXX, Abt. IIa, S. 385-530.
G. Mie: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Energieübertragung , Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. CVII. Band VIII. Heft (1898), S. 1113
M. Planck: Bemerkungen zum Prinzip der Aktion und Reaktion in der allgemeinen Dynamik , Physikalische Zeitschrift, 9. Jahrgang, Nr. 23 (1908), S. 828
G. Job: Neudarstellung der Wärmelehre – Die Entropie als Wärme , Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt (1972)